Seit dem Ende meines Bundesfreiwilligendiensts in Chicago sind bereits wenige Jahre vergangenen, als sich allmählig das leise Gefühl von Tatendrang einschlich. Als ich 2019 – wenige Monate, nachdem mein ehrenamtlicher Dienst in den USA endete – meine Heimatstadt im Norden hinter mir ließ und mein Weg Richtung Halle zum Studium führte, begann zunächst ein ganz persönlicher unbekannter Lebensabschnitt. Neben überfüllten Skripten in der Universität, komplizierten Theorien aus diversen Lehrbüchern und der Osten, der nun zu meiner neuen Heimat werden sollte, ging mir all das, was die ehrenamtliche Arbeit leistete, nicht aus dem Kopf. Ich stellte mir immer wieder zum Ende meines Aufenthaltes in Chicago die Frage, ob der Beitrag, den die Gesellschaft für vermeintlich unsichtbare Bereiche leistet, ausreichen würde oder nicht jeder, der ganz natürlich Teil dieser Gesellschaft ist, einen eigenen, wenn auch kleinen Beitrag leisten sollte – viel mehr noch in der Pflicht steht, jene Bereiche, die im Schatten unseres Zusammenlebens stehen, sichtbarer zu machen.
Als ich mir eines Wochenendes vornahm die Ecken Halles weiter zu erkunden, fiel mir ein Aushang über den Weg, der eines dieser Bereiche sehr treffend berührt: die Arbeit im Kinder – und Jugendhospiz. Ich erinnere mich daran, mit Freunden und Familie kurzdarauf über das Hospiz gesprochen zu haben und stellte fest, diesen Ort mit großem Respekt und Ehrfurcht, nicht weniger, einer gewissen Ahnungslosigkeit zu begegnen. Wann macht sich der Mensch in seinem Leben schon tiefe Gedanken über die Hospizarbeit, wenn sie einen persönlich nicht unmittelbar betrifft und noch weiter: wie stehe ich eigentlich zum Tod? Der Tod scheint eine gesellschaftliche Grauzone zu sein, welche nicht näher zu betreten gilt – schon gar nicht im öffentlichen Diskurs und das, obwohl er uns, völlig gleich wie unterschiedlich wir auch sein mögen, gleichermaßen betrifft. Doch ist Hospiz nicht viel mehr als die Auseinandersetzung mit dem Sterben und der Begegnung mit dem Tod? Ich entschloss mich trotz anfänglicher Unsicherheit, den Kurs zur Familienbegleitung anzutreten. Bereits im Kennlerngespräch gaben mir die Koordinatorinnen ein doch so warmes Gefühl von Sicherheit und der Zuversicht auf die kommenden Monate. Schließlich startete der erste Kurs und damit das Zusammentreffen völlig neuer und fremder Gesichter, die bereits eines miteinander vereinte, die Offenheit eines vielleicht bislang unberührten Themas.
Von Paliativmedizinischer Versorgung, über die Komplexität der Pflege, bis hin zu Ritualen und Wünschen, psychosozialer Versorgung und schließlich auch dem Tod, wurde in unserer Vorbereitung zur Familienbegleitung jedes noch so kleine Thema abgedeckt. Die zahlreichen Diskussionen und meist so lebhaften und ehrlichen Gespräche, führten die anfangs noch fremden Gesichter zu einer immer enger werdenden vertrauten Gruppe zusammen. Mit jedem Seminar bekam ich das Gefühl von Sicherheit und allmählich der Bestätigung, den richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Dennoch wusste ich, alles theoretisch Erlernte wird sich erst in der Praxis bestätigen können oder einen ganz anderen individuellen Ansatz fordern. Max, den wir bereits mit seiner Mutter in einen der vielen Seminare im Hospiz kennenlernen durften, darf ich nun seit Frühjahr diesen Jahres auf seinem Weg begleiten.
Bereits beim ersten heimischen Zusammentreffen gab er mir ein willkommenes Gefühl. Seine Offenheit, verspielte Art und Entdeckungsfreude spielten dabei eine ganz entscheidende Rolle. Er war derjenige, der mich kurz nachdem sich die Tür öffnete, an die Hand nahm und mir voller Selbstverständnis seine neusten Spielsachen zeigte. Wir verbrachten zwei Stunden miteinander, die den Anfang der letzten Monaten bilden sollten. Jede Woche – meist an einem Samstagmorgen – mach ich mich auf den Weg zu Max, um mit ihm ganz ungezwungen Zeit zu verbringen. Dabei sind es nur zwei Stunden, die wir im Sand auf dem Spielplatz sitzen, mit dem neuen feuerroten Ball spielen oder er mich danach fragt, ob ich im Leben auch so viel Zeit zum Spielen hätte wie er. Dabei merke ich immer wieder, dass diese zwei Stunden, im Verhältnis zu all dem was seine Mama leistet, nur ein kleiner, aber doch so wertvoller Beitrag sind. Nach über einem halben Jahr Begleitung zeigt mir die anfänglich unbekannte Arbeit im Hospiz nicht nur, dass dieser Ort mehr als nur „Tod“ bedeutet, sondern vor allem eines: wie viel Sichtbarkeit und Respekt jedem einzelnen Helden um Max herum – und selbstverständlich ihm selbst – gebühren.